(c) Heide Kramer, 2001
Die Schwestern Hannah und Gabi Goslar in Berlin 
- Eine ganz persönliche Begegnung -
 

 

Die Schwestern Hannah und Gabi Goslar in Amsterdam, 1942. (c) Heide Kramer, 1999

Anne Franks Freundin Hannah stellt ihre Schwester Rachel Gabriele vor
Eine ganz persönliche Begegnung 
am 22. November 2001 im Hotel "Savoy", Fasanenstraße 9
 

 

Hintergrundinformationen

Hans Goslar wird 1889 in Hannover geboren und übersiedelt mit den Eltern 1894 nach Berlin. Hier vollziehen sich sein intellektueller Werdegang und das intensive orthodox-jüdisch-kulturelle Leben. Der Nationalökonom und Pressechef im Preußischen Innenministerium emigriert 1933 mit Ehefrau Ruth und der 1928 in Berlin geborenen Tochter Hannah Elisabeth nach Amsterdam/Holland. Hier begegnet ihnen der Kaufmann Otto Frank aus Frankfurt am Main. Auch er ist mit seiner Ehefrau Edith und zwei kleinen Töchtern Margot und Anne vor den Nationalsozialisten geflohen. Es existiert aber noch eine weitere Emigrantenfamilie: der Berliner Rechtsanwalt Franz Ledermann, seine Ehefrau Ilse und ebenso zwei kleine Mädchen Barbara und Susanne. Die Familien schließen sich sofort zusammen und unterstützen sich gegenseitig. 

 

Das Schicksal der Freundinnen
Hannah Goslar, Susanne Ledermann und Anne Frank werden "beste Freundinnen". Sie besuchen gemeinsam Kindergarten und Schule. 

 

Anne Frank

Als am 10. Mai 1940 Hitlers Wehrmacht die Niederlande überfällt, ist für die Mädchen die sorglose Zeit vorbei. Im Juli 1942 versteckt sich Anne Frank mit ihren Eltern und der Schwester Margot in der Amsterdamer Prinsengracht 263. Hier schreibt sie bis zur Verhaftung durch die Gestapo im August 1944 ihr Tagebuch. Mit diesen erhalten gebliebenen präzisen Aufzeichnungen wird Anne Frank der Nachwelt ein wertvolles Zeitdokument hinterlassen.
 

Susanne Ledermann

Susanne Ledermann wird mit ihren Eltern am 20. Juni 1943 bei einer Großrazzia der Deutschen in Amsterdam unmittelbar aus ihrer Wohnung geholt. Die Menschen gelangen über das Judendurchgangslager Westerbork nach Auschwitz und werden dort ermordet. Susannes ältere Schwester Barbara kann nur deshalb entkommen, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt bei Freunden aufhält. Nach der Deportation ihrer Eltern und der Schwester gelingt es ihr, bei christlichen Freunden unterzutauchen. Nach 1945 emigriert Barbara Ledermann in die USA. Sie heiratet den Wissenschaftler und späteren Nobelpreisträger Martin Rodbell. Barbara Rodbell-Ledermann lebt inzwischen verwitwet noch heute in North Carolina/USA.

 

 

Hannah Goslar

Inzwischen lebt die Familie Goslar in ihrer Amsterdamer Wohnung unter den größten psychischen Belastungen. 1942 zieht das Unglück in das Haus Goslar ein: zunächst stirbt Hannahs Mutter während der Geburt des dritten Kindes, das nicht am Leben bleibt. Kurze Zeit später erliegen auch die 13-jährige Hannah, ihre 1940 in Amsterdam geborene Schwester Gabriele, der Vater Hans Goslar und die in der Nachbarschaft lebenden Großeltern am 20. Juni 1943 der Großrazzia der Deutschen. Mit anderen Menschen werden sie aus ihren Häusern vertrieben, zunächst in das Judendurchgangslager Westerbork und anschließend nach Bergen-Belsen verschleppt. Hier gehen der Vater und die Großeltern zugrunde. Hannah und Gabriele sind nun völlig allein. Im April 1945 geraten die Schwestern auf Veranlassung der Nazis mit Tausenden anderer Häftlinge in einen Viehwaggon, der in die Geschichtsschreibung als "Der Zug der Verlorenen" eingeht. Ziel: Theresienstadt und andere Vernichtungslager. Die Rote Armee befreit die sechzehnjährige Hannah, ihre viereinhalbjährige Schwester Gabriele und andere Überlebende bei Tröbitz in Brandenburg.

Die Schwestern Hannah und Gabi Goslar landen im verlassenen Haus des Bürgermeisters der benachbarten Gemeinde Schilda. Dieses Haus bietet den beiden Mädchen zwar zunächst eine Unterkunft, aber weder Schutz noch Obdach. Als sich Hannah erschöpft in ein Bett legen will, entdeckt sie an den Wänden des Zimmers eine hellgrüne, mit Hakenkreuzen gemusterte Tapete. Wie sich später herausstellt, gehört dieses Zimmer der 19-jährigen Tochter des Bürgermeisters.

 

 

Die Schwestern heute
1947 emigriert Hannah nach Palästina/Jerusalem. Ihre kranke Schwester Rachel verbleibt zunächst in der Schweiz. Erst 1949 folgt sie ihrer Schwester nach Israel.
Aus Hannah ist eine Kinderkrankenschwester und schließlich Frau Hannah Pick-Goslar geworden, aus Gabriele eine Lehrerin und Frau Rachel Mozes. In Israel wird ihr zweiter Name Rachel zum Rufnamen. Rachel hat früh geschworen, niemals in ihrem Leben deutschen Boden zu betreten. Sie hält sich konsequent an ihren Eid und meidet alles, was mit Deutschland zusammenhängt. Es kommt oft vor, dass Rachel ihre Kinder mehrfach am Tage umkleidet, weil das "Lagertrauma" für sie unüberwindbar ist. Mit dem Wort "Lager" ist Verwahrlosung, Schmutz, Leid, Tod, Gefahr und Krankheit verbunden. Doch Rachel kann sich nicht mehr an ihre Leidenszeit in Bergen-Belsen erinnern.

 

Heide Kramer mit Rachel Mozes und Hannah Pick-Goslar in Berlin, 2001 (C) Heide Kramer

 

 

Hannah Pick-Goslar im Gespräch mit jungen Menschen 
Hannah Pick-Goslar hat es sich seit Jahren zur Aufgabe gemacht, als Opfer des Faschismus und nunmehrige Zeitzeugin vorwiegend junge Menschen für ihre Geschichte zu interessieren. ("Wer soll es später noch erzählen, wenn wir nicht mehr leb en?") So wird Hannah unter anderem häufig in ihre ehemalige Heimatstadt Berlin eingeladen, ist bereit, dort in Schulen zu referieren und Vorträge zu halten. Die Resonanzen sind groß. Man mag sie. Seitdem ich 1999 eigens für Frau Pick-Goslar ein Aquarell erarbeitet und es ihr persönlich in Berlin ausgehändigt habe, blieb unser Kontakt bestehen und wurde intensiver.

 

 

Hannah Pick und Rachel Mozes in Berlin, 2001


Im Herbst dieses Jahres erzählt mir Hannah Pick am Telefon, dass das Anne-Frank-Zentrum sie für November eingeladen hat und daher eine Reise nach Berlin eingeplant ist. Ob ein Treffen zwischen uns machbar wäre? Und: ihre Schwester sei jetzt endlich dazu bereit, sie, Hannah, nach Deutschland zu begleiten. Ich möchte es mir selbstverständlich nicht nehmen lassen, Hannah wieder zu sehen und ihre Schwester Gabriele kennen zu lernen. Allerdings, so erfahre ich, müssen sich zunächst strenggläubige Juden von einem solch schwerwiegenden Eid durch einen Rabbi lossprechen lassen. Akzeptiert dieser das Vorhaben nicht, gilt der Eid als unauflösbar. -- Doch es hat sich alles dafür entschieden. Hannah und Rachel Gabriele kommen. Für uns ist der Treffpunkt Hotel 'Savoy' ausgemacht.
Ich lerne Hannahs 'kleine Schwester' kennen. Sie wirkt zerbrechlich und ist schwarz gekleidet. Mir fällt sofort auf, dass die Schwestern Goslar vom Äußeren her unterschiedlich sind. Ich habe einmal Fotos der Eltern Hans und Ruth Goslar angeschaut. Ich finde, dass Hannah optisch ihrer Mutter ähnelt und die Schwester Rachel dem Vater. Bei Hannah Pick bemerkte ich schon früher eine gewisse Sachlichkeit. War das die "schützende Hülle", die ihr während der Leidenszeit im Konzentrationslager zu Gute kam und das "Überleben" ermöglichte? Sofort fällt mir eine Äußerung Hannahs ein: "Ich musste immer für alle und alles wie eine Mutter sorgen". --- Wie mag es gewesen sein, als die Schwestern Hannah und Gabriele schwer krank und mutterseelenallein nach der 'Befreiung' durch die Rote Armee in Tröbitz und Schilda nach Essbarem und einer Unterkunft suchten? Hannah hatte sich um alles gekümmert, sehr zuverlässig und verantwortungsvoll gegenüber ihrer kleinen hilflosen Schwester.


Ich finde, dass Rachel traurig aussieht. Sie ist äußerst zurückhaltend, reicht mir fast scheu und ernst die Hand. Ich spüre, dass sie sich nicht wohl fühlt. Möglicherweise bereute sie die Loslösung von ihrem Eid und die Reise nach Deutschland? Doch da ist ja die beschützende 'große Schwester'. 
Hannah Pick bittet mich, zum Einkaufen mitzukommen. Wir betreten die Konfektionsabteilung eines großes Warenhauses1. Hannah findet gezielt das, was sie haben möchte. Rachel nimmt unschlüssig diese und jene Ware in die Hand, so einen Schal oder eine Mütze, ich merke, die Sachen gefallen ihr, aber sie schwankt zwischen 'Ja' und 'Nein'. Im nächsten Augenblick legt sie entschieden die Dinge abrupt zurück und sagt: "Ich werde niemals deutsche Produkte kaufen". -- Ich überlege und bin unsicher: wurde auch dieses Warenhaus nach 1933 "arisiert"? --- Bald darauf lädt mich Rachel zu einem Kaffee ein, wiederholt, sie wolle und würde keine deutschen Sachen kaufen, und abermals fällt mir das Gegensätzliche der Schwestern auf, dieses Mal jedoch nicht aus optischem Blickwinkel. Frau Pick hat nämlich das Gewünschte erworben, aber die Bemerkung ihrer Schwester mitbekommen und sagt: "Ich bin 'charakterlos'. Ich habe festgestellt, dass ich hier einige Sachen günstiger bekommen kann als bei uns. Warum sollte ich sie also dann nicht kaufen?".---
Sie laden mich in ein koscheres israelisches Restaurant im Gemeindehaus Fasanenstraße ein. Rachel wird beim Essen etwas offener und gesprächiger. Hannah wundert sich über ihre Schwester: "Ich habe gar nicht gewusst, dass du so gut Deutsch sprichst!" Aber hierin steht keine der anderen nach. Es war Rachels Wunsch, auch nach Hannover zu kommen, um sich über die dortigen ehemaligen Lebensräume ihres Vaters zu informieren. Spurensuche. Da das jedoch aus Zeitgründen nicht realisierbar sein konnte und ich davon abgeraten hatte, rege ich an, beim nächsten Treffen, im Sommer, ganz bestimmt dieser Bitte gerecht zu werden und den Schwestern in Hannover die Wohnhäuser zu zeigen, in denen ihr Vater als Kind mit seinen Eltern lebte, bevor die Familie nach Berlin verzog. --- Der Vater Hans Goslar hatte in Amsterdam für seine zweite Tochter den Namen 'Gabriele' ausgesucht und sie liebevoll 'Gabi' genannt. Das erzählt Hannah. Wir verabschieden uns bald darauf, denn ich muss den letzten Zug nach Hannover bekommen, und für Hannah und Rachel steht in Berlin für die nächsten Tage noch ein turbulentes Programm an, so zum Beispiel ein Radiointerview, zahlreiche Gespräche, Empfänge und Vorträge.

Es ist das Schicksal der Entwurzelten, die doch noch an ihren Wurzeln hängen. Sie sind unruhig auf der Suche, und vielleicht sehnen sie sich, wenn auch inzwischen wahrscheinlich unbewusst, nach ihrem Ursprung?

Ich kann Rachel verstehen, aber Hannah hat Recht.

2
1 Es handelt sich um C & A
2 (Erlebt und aufgezeichnet von (c)Heide Kramer, D-Hannover, November 2001)
 
(Text mit freundlicher Genehmigung von Frau Heide Kramer)

 

 

 

 

 

EIN BILD FÜR HANNAH oder AHAVA HEISST LIEBE

 

Anne Franks Freundin Hannah Pick-Goslar erhält mein Aquarell:

"Die Freundinnen Hanne, Sanne, Anne und das Moortje"

(Persönliche Übergabe am Sonnabend, dem 3. Juli 1999 um 17.00 Uhr im Hotel "Savoy", Fasanenstraße 9 in Berlin)

  

Es war mein lang gehegter Plan, für die beste Freundin Anne Franks aus der Amsterdamer Emigration eine künstlerische Impression zu erarbeiten. -

Hannah Pick-Goslar, die von Anne in ihrem Tagebuch "Hanne", "Hanneli" oder auch "Lies Goosens" genannt wird, lebt heute in Israel (Jerusalem). Der Wunsch, Hanne mein Aquarell aber auch persönlich auszuhändigen, sollte sich realisieren.

"Wer uns zusammen sah, sagte immer: "Da laufen Anne, Hanne und Sanne (...)".--

Dieses Zitat aus Annes Tagebuch vom 14. Juni 1942 brachte mich auf die Idee, meinen künstlerischen Experimentiergeist herauszufordern. Doch bevor ich das praktizierte, wollte ich mich selbstkritisch der Frage stellen, ob meine eigenen Möglichkeiten ausreichen würden, den Satz Anne Franks bildnerisch so aussagekräftig umzusetzen, um die Menschen dafür einzunehmen bzw. ihr Interesse zu gewinnen.

Ich stellte mir vor, wie sich das Zusammensein dieser Kinder abgespielt haben könnte: drei junge Mädchen erfreuen sich ihres Lebens, was an und für sich nichts Außergewöhnliches ist. Doch hier lief es anders: diesen Mädchen stand die Freude am Leben nicht zu. Ihr Leben war nicht gefragt, es hing am seidenen Faden: vielmehr wurde danach getrachtet, es auszulöschen.

Ernste Gedanken machten sich in der Amsterdamer Emigration die Mädchen Hannah Goslar, Susanne Ledermann und Anne Frank vorläufig nicht.

Ihren im Jahre 1933 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland geflohenen Eltern war es bislang gelungen, den Kindern ein sorgloses Leben zu bieten und die politischen Ereignisse von ihnen fernzuhalten. Diese Mädchen gingen ganz normal zur Schule, sie pflegten Freundschaften, Kontakte, Interessen. Als jedoch 1940 die Deutsche Wehrmacht die Niederlande überfiel, blieb auch den herangewachsenen Freundinnen nicht mehr alles verborgen: sie wußten inzwischen sehr gut, was der gelbe Stern bedeutete, der ihnen und unzähligen anderen Menschen angeheftet worden war.

 

Mein Bild sollte aber ausschließlich der fröhlichen Notiz Anne Franks entsprechen und auch so verstanden werden. Die genannten Aspekte und mein Arbeitseifer führten endlich zu dem Aquarell, das man anschauen kann als : "DIE FREUNDINNEN HANNE, SANNE, ANNE UND DAS MOORTJE".

 

Welche Rolle spielt "Moortje"?

Annes Kätzchen "Moortje" war ihr Lebensinhalt, ihm galt ihre ganze Zuwendung, und es bestimmte Abläufe in ihrem Leben. Anne Frank dokumentierte ihre "Moortje" meistens drollig-kindhaft, so dass ich entschied: die Katze darf auf meinem Bild nicht fehlen. So belegen auch Autorinnen und Autoren die Existenz der "Moortje", wie zum Beispiel Ernst Schnabel in "Anne Frank - Spur eines Kindes", Hannah Pick-Goslar in "Erinnerungen an Anne Frank", Miep Gies in "Meine Zeit mit Anne Frank". - Die kleine schwarze Katze "Moortje" gehörte zu Anne, wurde heiß geliebt und im Versteck in der Prinsengracht bitter vermisst.  

 

Anne schrieb am 12. Juli 1942: "Moortje ist mein weicher und schwacher Punkt. Ich vermisse sie jede Minute, und niemand weiß, wie oft ich an sie denke".---

Die Notwendigkeit gebot, das Kätzchen zurückzulassen. Wie wir heute wissen, wurde "Moortje" nach dem Fortgehen der Familie Frank bei Annes Freundin Toosje (in der Nachbarschaft) sicher untergebracht.

 

Die Übergabe

Der 3. Juli steht nun für die persönliche Übergabe meines Bildes an Hannah Pick-Goslar. Sie ist derzeit Gast der Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen (RAA) in Strausberg, und so kann unser Zusammentreffen günstig eingerichtet werden. Der 3. Juli fällt auf einen Sonnabend,-- ein Grund für die strenggläubige Hannah Pick-Goslar, anlässlich der Schabbath-Feierlichkeiten vorübergehend nach Berlin überzusiedeln.

Aber sie nimmt sich Zeit für mich, und wir verabreden 17.00 Uhr für das Treffen in ihrem Berliner Hotel, das sich nahe der Synagoge befindet.

 

Ich sitze im Gartenlokal des Hotels einer lebensnahen, klugen, aber auch humorvoll-charmanten Dame gegenüber. Hannah Pick-Goslar ist seit längerem in mein Vorhaben eingeweiht, doch als sie mein Freundinnen-Aquarell entgegennimmt, werden Emotionen spürbar.

 

Hannah Pick-Goslar

Ich kenne ihre Biografie seit Jahrzehnten nicht allein aus Annes Tagebuch, sondern von Funk, Fernsehen, aufgezeichneten Gesprächen, ihr Gesicht ist mir von vielen Fotos vertraut. Hannah Pick-Goslar nun aber wirklich gegenüberzusitzen, ist mir zunächst etwas unbegreiflich. Doch dieses Gefühl ist schnell überwunden. Sie ist sehr aufgeschlossen, aber wiederum distanziert und gefestigt.

War diese letztgenannte Eigenschaft gar in jenen grauenvollen Zeiten eine schützende Hülle für die schutzlose Hannah? Ich erfahre, dass ihre im Jahre 1940 geborene Schwester Gabi niemals deutschen Boden betreten wollte und es auch künftig nicht tun wird.

Die Schwestern Goslar litten mit zahllosen anderen in Bergen-Belsen. Anfang April 1945 entstand hier das Gerücht, das gesamte Lager solle nach Theresienstadt evakuiert werden. Die Evakuierung des Lagers war jedoch kein Gerücht. Die Nazis beabsichtigten, die Häftlinge loszuwerden, um die Verbrechen auf diese Weise zu vertuschen. Allein auf sich gestellt, nachdem Eltern und Großeltern gestorben waren, traten die 16-jährige Hannah und ihre vierjährige Schwester mit tausenden anderer Häftlinge die Fahrt in Viehwaggons an. Noch kurz vorher konnte Hannah in Bergen-Belsen auch für ihre Freundin Anne Frank sorgen, für deren Schwester Margot war es bereits zu spät.

Nach zahlreichen qualvollen, immer wieder durch Tiefflieger unterbrochenen Reisetagen im Viehwaggon, Angst und Tod als ständige Begleiter, befanden sich die am Leben gebliebenen Häftlinge unter den unmenschlichsten Bedingungen endlich in der kleinen brandenburgischen Gemeinde Tröbitz. Hier vollzog sich für sie die "Befreiung" durch die Rote Armee. Die Schwestern Hannah und Gabi Goslar landeten im verlassenen Haus des Bürgermeisters der benachbarten Gemeinde Schilda. Dieses Haus bot den beiden Mädchen zwar zunächst eine Unterkunft, aber weder Schutz noch Obdach. Als Hannah sich zutiefst erschöpft in ein Bett legen wollte, entdeckte sie an den Wänden des Zimmers eine hellgrüne, mit Hakenkreuzen gemusterte Tapete. Zudem wies alles darauf hin, dass hier ein junges Mädchen ihres Alters gelebt haben musste. (Hinweis: siehe Fußnote auf Seite 6!)

Anne Franks Vater Otto hatte nach seiner eigenen Befreiung aus Auschwitz vom Überleben der Schwestern Goslar erfahren. Er beschloss, sich ihrer anzunehmen. Doch bevor dieses für ihn praktizierbar sein konnte, führte der Weg der beiden schwerkranken Mädchen durch Unterstützung des Roten Kreuzes zunächst nach Leipzig und anschließend in ein Krankenhaus nach Maastricht. Durch Otto Franks Einsatz gelang es später, die Mädchen zu Verwandten in die Schweiz einreisen zu lassen.

 

Etwas später setzt sich Hannah Picks 15jähriger Enkel "Raffi" (Rafael) zu uns in das Gartenlokal. Von ihren zehn Enkelkindern begleitet dieses Mal er seine Großmutter auf ihrer Reise. "Raffi" spricht mit Hannah Pick ausschließlich Hebräisch. "Er lernt jetzt auch gerade Englisch", erklärt sie mir, und ich habe den Eindruck, dass "Raffi" zunächst etwas skeptisch die "Lage" prüft. Sein Vater und Hannah Picks Schwiegersohn Shmuel Meir ist stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem, bevor er am 3. Dezember 1996 durch einen Autounfall tödlich verunglückt. ---

Ich habe Hannah Picks Buch "Erinnerungen an Anne Frank" mitgenommen. Hannah hat es ihren Kindern und Enkeln, ihrem auf jene tragische Weise gestorbenen Schwiegersohn und Miep Gies, die Margot und Anne Frank beschützt hat, gewidmet.

 

Ich lenke bewusst das Thema nicht schwerpunktmäßig auf Anne Frank, denn es ist kein Zufall, dass mein Bild "die Freundin Hanne" zuerst benennt. Diese Arbeit soll eine Hommage an drei Kinder sein. Doch zwei der Mädchen in meinem Bild hatten den unausweichlichen Todesweg zu gehen: Sanne1 wurde 1943 in den Gaskammern von Auschwitz ermordet, Anne2 verhungerte im März 1945 in Bergen-Belsen. Nur die im Bild dargestellte Hanne3 kam gerade soeben davon. Sie ist gezielt die Empfängerin meines Bildes.

 

Hannah Goslar entschloss sich nach dem Krieg, in Israel Kinderkrankenschwester zu werden. Sie wird in den darauffolgenden Jahren auch als Schul- und Sozialschwester an einer Beratungsstelle für Frauen, Mütter und Kinder arbeiten.

Aus dem eigenen Leid heraus ist ihr Bestreben gewachsen, auf der Seite der Schwächeren zu stehen und ihnen zu helfen. Sie heiratet und verwitwet. Gegenwärtig lebt sie allein ohne jedoch allein zu sein, denn sie praktiziert nach wie vor den Dienst an Menschen; Hannah Pick-Goslar hat zudem eine große Familie. Eine andere wichtige Aufgabe sieht sie unverändert darin, Nachrichten an die Nachgeborenen zu senden. Dieses bleibt ihr ein ernstes Anliegen. Sie reist in die Welt, um mit Menschen zu reden, Vorträge zu halten und im Sinne des eigenen Erlebten ihre Botschaft mitzuteilen, auch im Sinne Margot und Anne Franks sowie aller Namenlosen, denen zu äußern es nicht vergönnt ist:

 

 NIE WIEDER AUSCHWITZ !

 

Stunden voll intensiver Gespräche, Offenheit mit- und untereinander schaffen eine entsprechende Atmosphäre. Trotz schmerzender Knie möchte sie dennoch mit mir einen Spaziergang unternehmen. So gehen wir durch die abendlichen, sehr heißen belebten Straßen Berlins und haben eine Menge Themen, auch der an vielen Dingen äußerst

interessierte "Raffi" ist dabei. Hannah Pick zeigt mir ferner, wo sich heute die Synagoge befindet: sie ist seit Kriegsende in der ehemaligen Loge in einem Hinterhaus in der Joachimsthaler Straße beheimatet. ---

Um fast 21.00 Uhr begleite ich beide zurück zum Hotel "Savoy". Es ist mein eigener Wunsch, noch mitzukommen. Hannah Pick ist damit einverstanden, und sie bittet mich in dem Zusammenhang um einige Handlungen, die strenggläubige Juden am Schabbath nicht ausführen dürfen. Ich merke: auch hierin lerne ich eine Menge dazu.

So werde ich in ihre Hotelräumlichkeiten eingeladen, und ich betrachte das als Ausklang eines für mich äußerst bedeutungsvollen Tages.

 

Im Zimmer betrachtet "Raffi" das "Freundinnen-Bild" intensiv und konstatiert, ihm sei aufgefallen, dass seine Großmutter Hannah da aussehe, als sei sie viel älter als ihre Freundinnen Sanne und Anne, sie wirke wie eine Mutter, die sich um alle sorgt. Anne Frank dagegen komme ihm dagegen klein und kindlich vor. -- Hannah Pick gibt ihm Recht und lächelt wehmütig: "Das stimmt, ich mußte mich ja auch ständig um alle und alles wie eine Mutter kümmern!!"--- Anne Frank war ein halbes Jahr jünger als Hanne und Sanne und tatsächlich für ihr Alter klein und zart.

 

Bald darauf will "Raffi" von mir wissen, ob ich an Gott glaube, und da kehrt ganz plötzlich das Entsetzensgefühl zu mir zurück, das mich während meiner Exkursion nach Auschwitz im Oktober 1997 auf dem Gelände des Stammlagers I und in Birkenau überfallen hat. Die Antwort, die der ebenfalls strenggläubige "Raffi" von mir erwartet, kann ich ihm nicht unbefangen geben. Hannah Pick blickt mich aufmerksam an, sie durchschaut wohl meine Gedanken und sagt: "Sicher, Gott hat sie alle dorthin gehen lassen...".---

 

Mir ist nicht entgangen, dass sie aufmerksam das hiesige Geschehen beobachtet, interessierte Fragen stellt und über alles sehr gut informiert ist. Außerdem hat sie ihre ehemalige Muttersprache durchaus nicht vergessen. Sind einige von Hannahs Wurzeln trotz der Entwurzelung in Deutschland verblieben?

 

Fragende Blicke auf ihre Kopfbedeckung (ein modischer Hut), die trotz kaum auszuhaltender Hitzegrade unverändert auf ihrem Kopf verbleibt, entgehen ihr nicht. Sie verrät den Grund: es ist ein Ritual strenggläubiger jüdischer Frauen, und später sagt mir Hannah, in ihrem Falle bedeute das auch Würdigung für ihren zweiten verstorbenen, ebenfalls strenggläubigen Ehemann.

 

Für Hannah Pick-Goslar gibt es eine verwandtschaftliche Verbindung nach Hannover. Ihr Vater Hans Goslar war Ministerialrat für Innere Angelegenheiten und Pressechef des Preußischen Kabinetts in Berlin bis zu seiner Emigration nach Holland in 1933. Hans Goslar wurde 1889 in Hannover geboren. 1894 zog Familie nach Berlin.

 

Als ich zu fortgeschrittener Stunde wieder in meiner Pension bin, schaue ich mir in Ruhe Hannah Pick-Goslars Geschenk an. Sie hatte mir das kleine Päckchen anfangs im Gartenrestaurant gegeben, und ich höre jetzt deutlich ihre Stimme: "Hoffentlich wird sie oft getragen!" Die silberne Anstecknadel ist die Replik einer Stahlskulptur, die der amerikanische Künstler Robert Indiana im Jahre 1978 kreierte und die dem Israel Museum in Jerusalem als Geschenk übereignet wurde. Das Monument demonstriert außerdem mit dem hebräischen Wort "Ahava" den Wunsch nach Frieden mit und in der Welt:

AHAVA HEIßT LIEBE.

1 mittig im Bild

2 links im Bild

3 rechts im Bild

i

Frau Pick-Goslar berichtete mir im Sommer 2000 fernmündlich aus Israel, sie habe vor einigen Jahren Tröbitz und Schilda/Brandenburg aufgesucht und dort mit (noch lebenden) Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gesprochen. Sie begegnete auch der Tochter des im April 1945 amtierenden Bürgermeisters in Schilda. Dabei stellte sich heraus, dass es sich bei der Frau um die Bewohnerin jenes Zimmers mit der grünen Hakenkreuztapete handelte, in dem Hannah und Gabi nach der "Befreiung" im April 1945 für einige Tage untergekommen waren. Frau Pick-Goslar gab sich als ehemaliger Häftling (DP) des Konzentrationslagers Bergen-Belsen vom 'verlorenen Zug' und seinerzeitige Zufluchtsuchende im (verlassenen) Bürgermeisterhaus zu erkennen. Die Tochter des Bürgermeisters beschuldigte nun in peinlicher Weise1) Frau Pick-Goslar des Diebstahls. Die Frau behauptete, sie habe damals nach Rückkehr in ihre Räumlichkeiten zahlreiche Dinge vermisst, die nur sie, Frau Pick-Goslar, gestohlen haben könne.

Frau Pick-Goslar wies und weist diese Anschuldigung als unzutreffend zurück. Die sich in elendster Verfassung befindlichen Schwestern hatten sich nur wenige Tage im Hause des Bürgermeisters bzw. im Zimmer der Tochter aufgehalten. Sie nahmen nichts an sich. Nachdem die Schwestern das Haus verlassen hatten, suchten nach ihnen noch zahlreiche andere Flüchtlinge und DP' s das Haus auf, um dort ebenfalls vorübergehend eine 'Bleibe' zu finden.





(Aktualisiert im Mai 2002)
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1)(Anm.d.Verfasserin)

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Weitere Links zum Thema:

 

Anne Frank - das Mädchen auf dem Bild

Interner Link auf einen Vortrag von Heide Kramer.

 

Ein Bild für Hannah

Informationen und Materialien zusammengestellt von Heide Kramer für das Projekt "Lernen aus der Geschichte" (Infos).

  

Ein Portrait von Anne Frank 

Ausführliche Texte und weitere Aquarelle von Heide Kramer.

  

Wer mehr über die Künstlerin und Freundin von Hannah Gosslar erfahren möchte, kann sich auch persönlich an Frau Kramer im Forum wenden.

Kontakt
last updated on 08.02.06