Das Treffen am 22. Juni 2002 im Berliner Hotel "Savoy", Fasanenstraße 9
©Von Heide Kramer, Juli 2002
Frau Hannah Pick-Goslar war offiziell zwar erneut Gast der RAA Strausberg (Anmerkung 1 siehe Textende), hielt sich jedoch im Sommer 2002 vorwiegend in der Region Wittenberge/Brandenburg auf, um dort in Schulen zu referieren, sich aber auch mit alten Bekannten auszutauschen. weiterlesen
© Von Heide Kramer, Hannover
Kurfürstendamm: Frau Hannah Pick blickt auf die Szene
Foto: ©Heide Kramer, Juni 2002
Zahlreiche Ausflüge und Begehungen waren für Frau Hannah Pick und ihren Enkel Benjamin Meir ("Benni") in Aussicht gestellt. Anlässlich der Schabbathfeierlichkeiten wollte Frau Pick-Goslar (wie bereits in den Vorjahren) wieder nach Berlin in das zentral gelegene Hotel 'Savoy' übersiedeln. Einer der Gründe: Die Synagoge in der Joachimsthaler Straße unweit der Unterkunft sowie das Jüdische Gemeindezentrum in der Fasanenstraße. So verabredeten wir erneut als Treffpunkt das "Savoy".
Begegnung am 22. Juni 2002 im Berliner Hotel "Savoy", Fasanenstr. 9
Für mich ist es sehr interessant, jedes Mal einem anderen der zahlreichen Enkel Hannah Picks zu begegnen. 1999 lernte ich den damals fünfzehnjährigen Rafael Meir ("Raffi") kennen, 2000 und 2001 begleitete die seinerzeit dreiundzwanzige Kunststudentin Jael Meir ihre Großmutter nach Deutschland (Anmerkung 2 siehe Textende). Diesmal sollte ich den fünfzehnjährigen Benjamin Meir ("Benni") kontaktieren. Wie vorher für seine Geschwister war es auch für ihn jetzt die erste Reise nach Deutschland.
Frau Pick und Benni kamen mir im Hotel bereits auf der Treppe entgegen. Sie begrüßten mich freundlich und luden mich ins Hotelzimmer ein. Hier wurde ich sofort gastfreundlich mit Getränken und Gebäck bewirtet. Bald entwickelte sich eine lebhafte Unterhaltung. Unter anderem erfuhr ich von Benni, er habe unlängst das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen besucht, und er wolle daraufhin nach Auschwitz reisen. Sein Vater Shmuel Meir war der ehemalige stellvertretende Bürgermeister Jerusalems, der 1996 durch einen Autounfall ums Leben kam. Benni erzählte mir, obgleich er zum Zeitpunkt des Unglücks noch sehr klein gewesen sei, könne er sich dennoch deutlich an seinen Vater erinnern. Auf meine Frage nach seinen Plänen antwortete mir Benni, so genau habe er sich das noch gar nicht überlegt: "Erst einmal das Gymnasium".
Wir tauschten auch Geschenke aus. Ich übergab u. a. Frau Pick einen Dokumentarfilm aus der Weimarer Zeit mit dem Titel "Berlin wie es war". Ich hatte das gezielt so entschieden, denn Hannah Pick wurde 1928 in Berlin geboren. Ihre Eltern Hans und Ruth Goslar emigrierten 1933 mit ihrer fünfjährigen Tochter Hannah Elisabeth in die Niederlande nach Amsterdam Geschichte der Familie Goslar Mehr zur Geschichte der Familie Goslar.
Gegen Abend schlug Frau Pick einen Spaziergang zum Ku'damm vor. Sofort wurden wir auf den Straßen in die Euphorien des soeben gewonnenen Fußball-Halbfinale zu Gunsten der Türkei einbezogen, es schien, dass sich plötzlich alle türkischen Bürgerinnen und Bürger Berlins auf den Straßen einfanden. Sie benahmen sich vor Freude über den Sieg wie von Sinnen, hissten und schwenkten ihre Standarte, und überall erkennbar das rote Tuch mit dem weißen Halbmond, dazu Gesang, Rufe und Pfiffe. Zum Teil auf den Autos stehend (und das während einer mörderischen Fahrt), waren die Menschen völlig außer sich und mobilisierten das ganze Zentrum mit ihrer Begeisterung, Freude, und willens, das alles mit anderen zu teilen. Die etwas ängstlichen Gesichter von Frau Pick und Benni verrieten ihre Sorge. Auch ich befürchtete, dass sich bei diesen aufgeheizten Stimmungen und den obendrein entsprechenden hochsommerlichen Hitzegraden aggressive Stimmungen entwickeln und Neo-Nazis eintreffen könnten. Die präsente Sicherheitspolizei mit ihren zahlreichen Einsatzwagen bestätigten diese Befürchtungen, die sich aber glücklicherweise nicht realisierten. Der Krawall überbot sogar das ohrenbetäubend-dröhnende "Techno-Bumm-Bumm" vom parallel und alljährlich stattfindenden Festival der Berliner Homosexuellen- und Lesbenszene.
Bevor wir das Hotelzimmer verließen, schlug ich Benni vor, aus Sicherheitsgründen über seine Kippa die Baseball-Kappe zu ziehen, die ich ihm geschenkt hatte, was er befolgte. Es schien unterwegs im turbulenten Berlin hinsichtlich der kritischen Nah-Ost-Politik und dem daraus resultierenden (hiesigen aufkeimenden) Antisemitismus durchaus nicht ratsam, sich als streng gläubiger Jude öffentlich mit einer Kippa zu zeigen. Hannah blickte mit der Zeit etwas gelassener auf die Szenerie und bemerkte, momentan interessiere man sich hier wohl nicht für Juden. Sie führte mich übrigens in die nahe der Gedächtniskirche gelegene Tauentzienstraße und erzählte mir, dass hier bis 1933 ihre Großeltern wohnten.
Hannah Pick (mit Benni) vor dem ehemaligen Wohnhaus ihrer Großeltern in der Tauentzienstraße vor der Emigration im Jahre 1933"
Foto: ©Heide Kramer, Juni 2002
Das ursprüngliche Wohnhaus ihrer Verwandten fiel den Bomben des Zweiten Weltkrieges zum Opfer, ersetzt wurde es durch einen seelenlosen Neubau, im Erdgeschoss mit einer Apotheke. Viele in Hinterhöfen ansässige Berliner Synagogen wurden durch den Naziterror zerstört, doch heute verweisen sicht- und lesbare Gedenktafeln auf ehemalige Hinterhof-Synagogen, so auch in der Passauer Straße. Frau Pick erzählte mir, dass ihre Großeltern oft in die Synagoge der Passauer Straße gegangen sind.
Gedenktafel in der Passauer Straße 2, Berlin
Der Text lautet:
Hinter diesem Gebäude befand sich die 1905 erbaute Synagoge des "Religionsvereins Westen", Passauer Straße 2. In der Pogromnacht des 9. Nov. 1938 wurde sie von Nationalsozialisten geplündert und zerstört.
Leider war es mir unmöglich, von Hannah und Benni ein Erinnerungsfoto zu machen, beide wehrten entschieden ab, da es strenggläubigen Juden untersagt ist, sich am Schabbath fotografieren zu lassen.
Nach 20.00 Uhr musste ich meinen Zug nach Hannover erreichen. Weil ich mich für Frau Pick und Benni verantwortlich fühlte und ich sie auf keinen Fall allein durch die unruhigen Berliner Straßen gehen lassen wollte, begleitete ich sie bis in die Nähe ihres Hotels. Auf dem Weg zum Hotel kaufte ich für Hannah und Benni in einem Souvenir-Laden auf dem Ku'damm Ansichtskarten, deren Auswahl ich beiden überließ. Für den Autofan Benni entdeckte ich in diesem Geschäft ein kleines VW-Käfer-Modell, Baujahr 1956. Sollte ich es ihm als Geschenk anbieten? Wir kennen mittlerweile die nazibelastete "Lobby" des Volkswagen-Konzerns. Aber zu meiner Verwunderung reagierte Frau Pick auf meine Einwände lächelnd und sagte, ihr inzwischen verstorbener Ehemann habe sich einen gelben Volkswagen-Käfer zugelegt, ihn mit Vergnügen gefahren und sich nie schwere Gedanken zur leidigen Nazivergangenheit dieses Gefährts gemacht. Ich konnte Benni das Modell-Auto nicht sofort überlassen, da er am Schabbath nichts anfassen und entgegennehmen durfte. Mir entging jedoch nicht, dass er sich riesig freute, seine Augen leuchteten, am liebsten hätte er den kleinen Wagen sofort an sich genommen. Doch Benni blieb standhaft. So hat die Post ihm etwas später das Geschenk nach Jerusalem übermittelt.
Bis zum darauf folgenden Donnerstag hielten sich Frau Hannah Pick und ihr Enkel Benni in Wittenberge und Strausberg auf.
Frau Pick fragte schon häufiger, wann ich ihr Land besuchen würde, versteht es jedoch, wenn Reisen nach Israel, so in das krisenreiche Nahost-Gebiet, nach wie vor nicht bedenkenlos angetreten werden.
Hannahs Schwester Rachel hatte den Wunsch geäußert, einmal Bergen-Belsen zu besuchen. Hannah würde sich zwar dem Plan ihrer Schwester Rachel anschließen, käme aber auf keinen Fall ohne sie.
Einige Tage später erfuhr ich, dass Hannah Pick und ihr Enkel Benni wohlbehalten in Israel eingetroffen waren.
Erlebt und aufgezeichnet von ©Heide Kramer, Hannover, Juli 2002.
Stand: Juni 2013
Anmerkung 1: RAA (Regionale Arbeitstelle für Ausländerfragen in Strausberg existiert nicht mehr. Die Zuständigkeiten obliegen seitdem der RAA Potsdam).
Anmerkung 2: Jael Meir, seit 2006 Frau Jael Rosenfeld. 2008 wurde der Sohn Shmuel geboren.