Anne Franks Freundin war Hannah Elisabeth Pick, geb. Goslar: Mein Großvater Alfred Klee (Februar 2010)

Hannah Elisabeth Pick, geb. Goslar: Mein Großvater Alfred Klee

Von Heide Kramer,   Februar 2010

Einblicke und  Erinnerungen

Mit freundlicher Genehmigung von ©Frau Hannah Pick,   Jerusalem/Israel, 2010

1941: Alfred Klee und seine Enkelin Hannah in Amsterdam.  

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Jugend- und Schulzeit, Ideale,   Visionen 

Mein Großvater Alfred Klee wurde am 25. Januar 1875 in Berlin   geboren. Der Umstand, dass er das einzige Kind blieb, mag das Verhältnis zwischen Eltern und dem Kind besonders innig gestaltet haben. Von einer   Verzärtelung war jedoch nicht die Rede. Der ernste strenge Vater Moritz Klee   handelte mit der Einstellung, wer   sein Kind lieb hat, der züchtigt es. —

Vorgebildet auf dem Realgymnasium in Halberstadt hatte er sich durch unermüdlichen Fleiß aus kleinen Verhältnissen zum erfolgreichen Fabrikbesitzer   hoch gearbeitet und dabei die Schule des Lebens früh kennen gelernt. Sein   hervorstechendster Charakterzug war neben treuester Pflichterfüllung seine   große Wahrheitsliebe und ein unbeugsames Rechtsgefühl. Das brachte er auch   seinen Mitarbeitern gegenüber zum Ausdruck, was ihn beliebt machte.

Nichts konnte ihn mehr betrüben als eine Lüge, und so blieb dem Jungen der vorwurfsvolle Blick seines Vaters nach einer ertappten Unwahrheit unvergessen: Es war am 24. Januar 1884, als der kleiner Sextaner Alfred Klee   eine Stunde Arrest wegen irgend einer Ungezogenheit bekommen sollte. Aus   Angst vor Schelte bat er seinen Ordinarius, ihm doch die Strafe zu erlassen,  da gerade heute sein Geburtstag sei. Der gutmütige Lehrer ging auch darauf   ein, aber die Lüge hatte natürlich kurze   Beine und der Schüler die Gelegenheit, nähere Bekanntschaft eines   Instruments zu machen, dessen eigentlicher Zweck die Reinigung von Teppichen und Garderobestücken vorbehalten war. —

Ernst und Strenge ließen den Vater Klee aber nie hart werden. So wie er seinen Arbeitern ein zuverlässiger Berater war, stand er auch immer für seine Familie ein. Die Mutter Eugenie Klee galt als der Sonnenschein des Hauses.  Mein Großvater betrachtete seine Mutter im   wahrsten Sinne als eine Mitarbeiterin des Vaters. Strahlte sie von ihrem   Wesen so viel Liebreiz, so viel reine Herzensgüte aus, dass sie das Haus in einen Tempel umzuwandeln verstand, in dem sie als Priesterin ihres Amtes waltete.–Mit einer wahren Anbetung hing ich an meiner Mutter. Und ich bin der   festen Überzeugung, dass die Erinnerung an diese hehre Frauengestalt mit   ihrem liebevollen und tief religiösen Wesen ein Talisman sein wird, der mir in der Stunde der Versuchung zur Seite steht.

Die besondere Fürsorge der Mutter Eugenie richtete sich außerdem auf das Elend in greifbarer Nähe. Sie scheute sich nicht, die Armenviertel zu betreten, in denen das Proletariat ein menschenunwürdiges Dasein fristete. Doch niemals sprach sie von dem was sie tat. Das Sprichwort  liebe deinen Nächsten wie dich selbst ist der Mutter zur zweiten Natur geworden.

Als Alfred Klee 11 Jahre alt war, starb sein Vater Moritz an einem langen Lungenleiden in Falkenstein/Taunus. Er hatte lange vergeblich im   milden Klima Italiens auf Heilung gehofft. Am 23. August 1887, kaum ein Jahr   später, folgte ihm seine Ehefrau Eugenie. Zum Trauma wurde es für den   zwölfjährigen Alfred, nachts an der Hand des Großvaters an das Bett seiner   sterbenden Mutter treten zu müssen. Die Großeltern nahmen sich nach ihrem Tod   des Jungen an und kümmerten sich fortan liebevoll um ihn. Noch später   erinnerte sich Alfred Klee dankbar an seine Großeltern: Was sie in meiner Jugend an mir   getan, waren sie in jeder Hinsicht aufs Beste bemüht, mir die Eltern zu   ersetzen, und wenn Eltern überhaupt zu ersetzen sind, so ist es ihnen wahrlich gelungen.—

Leider verlor Alfred Klee auch seinen Großvater früh, er starb in Wiesbaden an den Folgen eines Schlaganfalls. Die Großmutter zog nach dem Tod ihres Mannes zu der ihr noch verbliebenen Tochter nach Frankfurt/Oder. Obgleich es Alfred frei gestellt wurde, in Berlin die Schule weiter zu   besuchen, zog er es vor, im Frühjahr 1892 nach Frankfurt/Oder zur geliebten Großmutter zu ziehen.

Da mein Großvater Alfred Klee schon als Kind fast nur mit  Erwachsenen zu tun und außerdem zeitig die Eltern verloren hatte, wurde er  früh selbstständig. Das tat aber keineswegs dem Kindlichen Abbruch: Alfred   war ein wilder Junge der gern spielte, wozu die weiten Räume der väterlichen  Fabrik und der Hof einluden. Daneben zeigte sich bald sein Hang zur ernsten Lektüre.  Nach überstandener „Lederstrumpf- und Robinson-Crusoe-Phase“ gab es für den  neun- bis zehnjährigen fantasievollen Jungen kein größeres Vergnügen, als   sich mit preußischer und deutscher Geschichte sowie griechischer Mythologie   zu beschäftigen. Für die  Griechen empfand er allerdings eine größere Vorliebe als für die Lateiner. Das Zeitalter des Perikles erschien ihm von einem so   gewaltigen Einfluss auf die Weltkultur, und seinerMeinung nach war keine Epoche der römischen Geschichte damit vergleichbar. Mein Großvater befand: Ich vermisste bei den römischen   Schriftstellern das Originelle, mit Ausnahme allerdings des Tacitus’, den ich   gern las und wegen seines lapidaren Stils bewunderte. Vergil erschien mir   matt im Vergleich zu Homer. Für Ovid fehlte mir das rechte Verständnis, das erforderlich ist, um ihn gebührend zu schätzen. —–

Die Schulzeit meines Großvaters vollzog sich von Herbst 1881 bis Ostern 1886 in unterschiedlichen Berliner Gymnasien. Bis zur Übersiedlung nach Frankfurt/Oder besuchte er das Luisengymnasium in Berlin-Moabit. Den Neigungen seiner Kinderjahre (Geschichte und deutsche Literatur) blieb er treu. Noch später erinnerte er sich dankbar an seinen Deutschlehrer, der ihm   die alt- und mitteldeutsche Literatur nahe gebracht hatte. Aber er liebte   auch die Klassiker. Über Goethe und Schiller mochte mein Großvater nicht ohne   Weiteres diskutieren. Er meinte, dass ohne Begeisterung für Goethe und  Schiller die geistige Reife eines Schülers unerreicht bleibt, wenn das  Gymnasium seinen Auftrag nicht entsprechend erfüllt.

Bedeutung und Wert des klassischen Unterrichts hatte mein Großvater in jeder Beziehung verinnerlicht: Gerade dadurch, dass uns neben den verwickelten modernen Verhältnissen auch die einfachen alten vorgeführt und wir den Entwicklungsgang der Menschheit von den Tagen Homers und der Bibel bis auf unsere Zeit mit durchmachen, lernen wir moderne Zustände begreifen, wie sie sich herausgebildet haben. Wir lernen einsehen, dass nirgends Großes geschaffen, dass alles Bedeutende seine Zeit braucht, um bedeutend zu werden und nur das historisch Begründete sein Recht hat. Auch das Hebräische, das ich betrieb und weiter betreiben werde, interessierte mich sehr, obwohl es allerdings auch hier mehr der Inhalt des Gelesenen war als die rein formale Seite, mit der ich mich eingehend beschäftigte. War doch das Hebräische für mich nicht nur die Sprache der Bibel, in der der Herr von Sinai redet. Es ist zum Teil noch heute die Sprache des Bekennerstammes, dessen Mitglied zu sein stets der Stolz meiner Familie war.– 

Nie unterschätzte mein Großvater den Wert des Französischen als moderne Weltsprache. Er bedauerte es, von den eigentlich klassischen französischen Werken lediglich einige übersetzte Dramen kennen gelernt zu haben.

Alfred Klee schrieb gern Aufsätze und arbeitete seine eigenen Gedankengänge aus. Oft bat er nach größeren Reisen seine Freunde, an sie gerichtete Briefe zurückzugeben. Er fand es wichtig, auch hierin Fortschritte in seiner geistigen Entwicklung konstatieren zu können. Den Unterricht des Gymnasiums ergänzte er eigenständig durch historische oder philosophische Lektüre. –

Philosophische Betrachtungen mit einem stark ausgeprägten   religiösen Bewusstsein wiesen ihm schließlich den Weg zur Theologie. Einen   großen Einfluss darauf nahm der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Berlin Dr.   Rosenzweig. Alfred Klee besuchte seine Predigten so oft es ihm möglich war.  Den Religionsunterricht absolvierte er privat, obgleich dieser nicht   ausschließlich orthodox, so aber sicher doch ziemlich konservativ vermittelt   wurde. Noch später hielt mein Großvater an seinen Anschauungen auf das historisch-positive Judentum   fest, obgleich er im Laufe der Zeit einen etwas liberaleren Standpunkt   einnahm. Dennoch ist er seinem Lieblingswunsch Rabbiner zu werden nicht   nachgekommen. Er strebte eine unabhängige Position an, um seine Ideale   verwirklichen zu können. So entschloss sich Alfred Klee, Medizin zu   studieren. Er wollte dabei einerseits dem Wunsch seiner früh verstorbenen   Eltern nachkommen, andererseits seinen eigenen Neigungen. In der Praxis des   Arztes sah er theoretisches Studium und praktisches Wirken miteinander   vereinbar.

Ob mein Großvater Alfred Klee wirklich ein Medizinstudium   aufgenommen hat, ist mir allerdings nicht bekannt.

Werdegang und Wirken, Familie

Mein Großvater Alfred Klee arbeitete nach dem Studium der   Rechtswissenschaften als erfolgreicher Rechtsanwalt und bekannter   Strafverteidiger in Berlin und Bonn. Er schloss sich schon in Jugendjahren   der zionistischen Bewegung an. Er wurde später als Zionistenführer in der   zionistischen Bewegung in Deutschland aktiv und ab 1899 Mitglied des Großen   Aktionskomitees.

1899 heiratete Alfred Klee Therese Stargard (geb. 1877 in   Schwerin/Mecklenburg). Der Ehe entstammten die Kinder Eugenie Esther (1)   (geboren am 17. Mai 1900 in Berlin), meine Mutter Ruth Judith (geboren am 23.   Oktober 1901 in Bonn) und Hans (geboren am 3. November 1906 in Berlin).

Mein Großvater engagierte sich in der Jüdischen Gemeinde zu   Berlin (Mitglied der Repräsentantenversammlung seit 1920) und setzte sich für   die Ostjuden ein.

Ab 1914 wirkte er als Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung   für Deutschland und gehörte seit 1933 zur Reichsvertretung der Deutschen   Juden. 1931 band man ihn in den Prozess um die Verleumdungsschrift des Grafen   Reventlow über Die Weisen   von Zion ein. Der überzeugte Zionist Alfred Klee galt als   charismatischer Rhetoriker, außerdem zählte er zum engeren Freundeskreis   Herzls, Nordaus und Wolffsohns.

Shoa

Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 beschloss mein   Großvater Alfred Klee zu emigrieren. Als er sich gerade in Hamburg aufhielt,   um einen Vortrag zum Thema  Ideen   vom Zionismus  zu halten, warnte ihn sein Sohn Hans von   Berlin aus in einem verschlüsselten Telefonat vor anstehenden Verfolgungen   durch die Nazis: Guck   mal, du hast deine Enkeltochter   Hannah, die hat Geburtstag, und sie würde sich enorm freuen, wenn du ihr   persönlich gratulierst.—   Die Enkeltochter war ich, und ich habe am 12. November Geburtstag. Aber ich   lebte in den Niederlanden! —— Ich bin am 12. November 1928 in Berlin geboren.   Meine Eltern Ruth Judith und Hans Goslar   flohen schon 1933 mit mir vor den Nazis in die Niederlande nach Amsterdam.

Hier lernte ich sofort zwei weitere Emigranten-Mädchen meines   Alters kennen: Anne Frank, sie   war kurz vorher mit ihren Eltern und Schwester Margot aus Frankfurt am Main   eingetroffen, ferner Susanne Ledermann, die mit ihren Eltern und Schwester   Barbara wie ich aus Berlin kam. Wir wohnten dicht beieinander, gingen   zusammen zur Schule und wurden schnell unzertrennlich.

Großvater Klee begriff also die gefährliche Lage und reiste   unverzüglich zu uns nach Amsterdam. Als Rechtsanwalt konnte er ohnehin in   Deutschland nicht mehr arbeiten, denn jüdische Rechtsanwälte standen seit dem   27. September 1938 unter Berufsverbot. Meine Eltern nahmen ihn sofort auf.   Bald darauf folgten Großmutter Therese Klee und Onkel Hans. Die Großeltern   Klee wohnten später in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, mein Onkel Hans   reiste weiter in die Schweiz nach Basel. Wir blieben bis zum Einmarsch der Deutschen   Wehrmacht am 10. Mai 1940 unbehelligt.

Am 25. Oktober 1940 kam in Amsterdam meine Schwester Rachel   (Gabriele) zur Welt. Am 27. Oktober 1942 starb meine Mutter Ruth während der   Geburt des dritten Kindes. Es war tot geboren.

Die Großeltern, mein Vater, Rachel und ich erlagen in Amsterdam   am 20. Juni 1943 einer Großrazzia der Deutschen. Sie deportierten uns   zunächst in das Durchgangslager Westerbork, wo mein Großvater im November   1943 an einem Herzanfall starb. Danach sind Großmutter Therese, mein Vater   und wir Kinder in das deutsche Konzentrationslager Bergen-Belsen   (Austauschlager) gekommen. Mein Vater Hans Goslar ist dort am 25. Februar   1945 an den Folgen der KZ-Haft gestorben.

Meine Großmutter hätte uns wahrscheinlich durch einen Austausch   viel mehr helfen können, denn Jüngere, wie z. B. mein Vater, meine Schwester   und ich, standen nicht auf der Liste. Als es für Therese Klee wirklich einmal   eine Gelegenheit zum Austausch gab, suchte sie einen SS-Mann auf und sagte zu   ihm: Ich kann nicht von   hier weggehen, mein   Schwiegersohn ist sehr krank. —- So blieb meine Großmutter   Therese in Bergen-Belsen und starb am 25. März 1945.

Anfang April 1945 schickten die Nazis von Bergen-Belsen drei   Deportationszüge mit jeweils 2500 Häftlingen zur Vernichtung nach   Theresienstadt. Der letzte dieser drei Züge verließ Bergen-Belsen am 10.   April 1945, darunter meine vierjährige Schwester und ich Fünfzehnjährige.   Wegen der vorrückenden Front irrte der Todeszug mit uns dreizehn Tage ziellos   durch Deutschland. Am 23. April 1945 befreite uns die Rote Armee bei Tröbitz,   einem Dorf in der Niederlausitz. Eine Vielzahl von Häftlingen erlebte diesen   Augenblick nicht mehr.

Meine Schwester Rachel und ich haben als einzige aus unserer Familie überlebt.  

Textbeitrag von ©Heide Kramer, Hannover,   Februar 2010.

(1) Esther Eugenie Rawidowicz, geb. Klee. Ihr Sohn Benjamin Ravid ist Hannah Picks Cousin. Professor Benjamin Ravid lebt gegenwärtig in Boston, USA. Er lehrt an der Brandeis University   in Boston. Esther Eugenie Rawidowicz emigrierte 1933 nach London.

Quellen:   ©Auszüge aus dem von Alfred Klee mit der Schreibmaschine   verfassten Dokument (undatierte Kopie): “Vita – Alfred Klee“. Zitate   (kursiv): Entnommen der „Vita – Alfred Klee“.   Mit freundlicher Genehmigung von ©Frau Hannah Pick, Jerusalem/Israel.   Fotografien „Alfred Klee und seine Tochter Ruth Judith Goslar“ (undatiert)   sowie „1941: Alfred Klee mit seiner Enkelin Hannah in Amsterdam“: Mit   freundlicher Genehmigung von ©Frau Hannah Pick, Jerusalem/Israel.   ©Dokument “Brill’s Series in Jewish Studies…”: Mit freundlicher Genehmigung   von Prof. Benjamin Ravid, Boston, USA.   ©Wikipeda: „Alfred Klee“.   ©Wikipeda: „Das Luisengymnasium in Berlin“. 

Siehe auch:

http://antifa.sfa.over-blog.com/article-mein-gro-vater-alfred-klee-43968198.html         
http://www.hagalil.com/archiv/2010/02/02/klee/ 

 

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