Die Opfer vom verlorenen Zug in Tröbitz (April 2001)

 

                                                                       

 

 

Geschichtliches

Anfang April 1945 schickten die Nazis von Bergen-Belsen   drei Züge mit jeweils 2500 Häftlingen zur Vernichtung nach Theresienstadt.   Der letzte dieser drei Züge verließ Bergen-Belsen am 10. April 1945. Bedingt   durch die vorrückende Front irrte der Todeszug mit den aus mehr als zwölf   Nationen stammenden jüdischen Häftlingen dreizehn Tage ziellos durch   Deutschland. Die Fahrt endete bei Tröbitz, einem Dorf in Brandenburg. Hier befreite   am 23. April 1945 die Rote Armee über 2000 todkranke erschöpfte Menschen aus   den Viehwaggons. Eine Vielzahl von Häftlingen erlebte diesen Augenblick nicht   mehr, sie waren bereits während der Fahrt hauptsächlich an Flecktyphus   gestorben. Die Toten aus dem Zug wurden in Massengräbern im Umkreis der   Gemeinden Tröbitz und Schilda beigesetzt, so unter anderem an den   Bahnkilometern 101,6 bei Langennaundorf und 106,7 in der Gemarkung   Wildgrube.(1)   Nur wenige der Überlebenden hatten in   den verlassenen Häusern der nahe gelegenen Dörfer Tröbitz und Schilda eine   provisorische Unterkunft gefunden. Der Todeszug aus Bergen-Belsen ist als   "Zug der Verlorenen" oder auch als der "Verlorene   Transport" in die Geschichtsschreibung eingegangen.(2)

Hannah   Elisabeth und Rachel Gabriele Goslar im "Verlorenen Transport"

Ruth und Hans Goslar flohen 1933 mit ihrer fünfjährigen   Tochter Hannah Elisabeth aus Berlin in die Niederlande nach Amsterdam. Hans   Goslar war bis 1933 Ministerialrat und Pressechef im Preußischen   Innenministerium Berlin. Er galt als journalistische Größe der Weimarer Zeit.   Am 25. Oktober 1940 kam in Amsterdam die zweite Tochter Rachel Gabriele zur   Welt. 1942 starb Ruth Goslar während der Geburt des dritten Kindes. Es blieb   nicht am Leben. 

Geschichte der Familie Goslar   Mehr zur   Geschichte der Familie Goslar

1943 kam Hans Goslar mit seinen Töchtern und den   Schwiegereltern durch eine Großrazzia der Deutschen von Amsterdam zunächst in   das Durchgangslager Westerbork (wo im November 1943 sein Schwiegervater   Alfred Klee an einem Herzanfall starb) und danach in das deutsche   Konzentrationslager Bergen-Belsen. Hans Goslar starb hier am 25. Februar   1945, seine Schwiegermutter Therese Klee am 25. März 1945. Völlig allein auf   sich gestellt mussten auch die fünfzehnjährige Hannah und ihre vierjährige   Schwester Rachel Gabriele am 10. April 1945 ab Bergen-Belsen in Waggons die   Todesfahrt nach Theresienstadt antreten. Mit Tausenden von Häftlingen   erlebten die Mädchen nach dreizehn qualvollen Reisetagen am 23. April 1945   die Befreiung durch die Rote Armee bei Tröbitz in Brandenburg. Die   schwerkranken, halb verhungerten Kinder fanden im verlassenen unversehrten   Haus des Bürgermeisters der benachbarten Gemeinde Schilda für einige Wochen   Obdach. Hannah bemerkte in einem Zimmer des Hauses eine hellgrüne mit   Hakenkreuzen gemusterte Tapete. Offensichtlich hatte hier ein junges Mädchen   ihres Alters gelebt. Eine für Hannah schockierende Wahrnehmung, die ihr   unvergesslich bleiben sollte.

Mai   2003: Besuch der Schwestern Hannah Pick-Goslar und Rachel Mozes-Goslar in   Tröbitz und Schilda

Im Mai 2003 wurde Hannah Pick-Goslar erneut mit ihrer   Schwester Rachel Mozes-Goslar von der Regionalen Arbeitsstelle für   Ausländerfragen (RAA) in Strausberg /Brandenburg eingeladen. Die Spurensuche   sollte diesmal in Tröbitz erfolgen. Das Haus in Schilda, das ihr und ihrer   Schwester nach der Befreiung aus dem Zug im April 1945 Obdach bot, war Frau   Pick nicht aus dem Sinn gegangen. Ende der neunziger Jahre hatte sie bereits   während eines anderen Aufenthaltes bei der RAA Strausberg die Gemeinden   Tröbitz und Schilda sowie das dortige ehemalige Bürgermeisterhaus aufgesucht.   In Tröbitz lernte sie Frau Erika Arlt kennen, der es gelang, in Schilda die   von Frau Pick erwünschte Begegnung mit der hier verbliebenen   Bürgermeistertochter (Frau H.) zu ermöglichen. Im Mai 2003 wollte Hannah nun   ihrer Schwester Rachel die authentischen Orte zeigen, inbegriffen das   ehemalige Bürgermeisterhaus in Schilda. Rachel jedoch erinnert sich nicht   mehr an das damalige Geschehen. Ich begegnete Frau Erika Arlt im August 2000   während einer Gedenkstättenreise nach Tröbitz und Torgau, und wir hielten den   Kontakt aufrecht. Gern folgte ich nun im Mai 2003 ihrer freundschaftlichen   Einladung, schon einen Tag früher in Tröbitz anzureisen und in ihrem Haus   Quartier zu nehmen, denn wir wollten uns mit den Schwestern Goslar treffen.

Erika   Arlt

geboren am 30. März 1926. Sie stammt aus Halle/Saale und   lebt seit den fünfziger Jahren in Tröbitz. Mit ihrem Ende der neunziger Jahre   verstorbenen Ehemann und ehemaligen KZ-Häftling Richard Arlt setzte sie sich   jahrzehntelang intensiv dafür ein, das Schicksal der Opfer vom "Verlorenen   Zug" nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und die Erinnerung wach zu   halten. Dem selbstlosen Engagement von Frau Arlt ist es zu verdanken, dass   sich immer wieder Angehörige der Verstorbenen und Überlebende vom   Todestransport an sie wenden. Die Menschen reisen aus aller Welt an, um Erika   Arlt in Tröbitz zu kontaktieren. Sie besucht mit ihnen gemeinsam die   Familiengräber auf dem Jüdischen Friedhof und die Gedenkstätten in der   Umgebung. Schon oft bot die uneigennützige Frau Arlt den Weitgereisten   großzügig Gastfreundschaft. Innerhalb vieler Jahre hat sie Schicksale von   Betroffenen aus dem Todeszug erforscht und aufgeschrieben. Mitte der   neunziger Jahre publizierte sie eine informative Schrift (siehe Hinweis   unten). Am 2. Juni 1997 erhielt Frau Erika Arlt durch den damaligen   Bundespräsidenten Roman Herzog das Verdienstkreuz am Bande des   Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Im Namen des   Bundespräsidenten übergab ihr der Landrat des Landkreises Elbe-Elster am 25.   August 1997 diese Auszeichnung.

Hannah   Pick-Goslar und Rachel Mozes-Goslar in der Gesamtschule Uebigau/Elbe-Elster   Brandenburg

Am 14. Mai 2003 traf ich mit Erika Arlt in der   Gesamtschule der Stadt Uebigau (bei Falkenberg/Elbe-Elster) ein. Hannah Pick   und Rachel Mozes wurden in der Schule voller Spannung erwartet. Die Schule   hatte sich sehr einfühlsam und gut organisiert auf die Veranstaltung   vorbereitet, das Lehrerkollegium zeigte sich seinen Gästen gegenüber offen.   Alle wollten die Leidensgeschichte der Schwestern hören, die 1945 nach der qualvollen   Fahrt im Todeszug bei Tröbitz in Brandenburg endete. Eine kommunikative junge   Lehrerin nahm sich unserer an. Hannah und Rachel trafen gegen 10.00 Uhr in   Begleitung zweier Vertreter der RAA Strausberg ein. Aber auch anwesende   Vertreter der Stadt Uebigau und der Gemeinde Tröbitz würdigten die   Schwestern. Rachel hatte sich zurückgezogen, um sich auf ihren ersten eigenen   Vortrag vorzubereiten. Sie begrüßte schließlich im Klassenzimmer die   Schülerinnen und Schüler und die weiteren Anwesenden mit "Shalom".   Ihr Beitrag richtete sich auf die Gegenwart. Charismatisch stellte sie den   Zuhörern die facettenreichen jüdischen Lebenswelten vor, erzählte von den   Eigenarten, Gewohnheiten, Begebenheiten, aber auch der Trauer in ihrem Land.   Sie bezog die Jugendlichen praxisnah ein. Schließlich lehrte sie uns ein   hebräisches Lied. Ich wünschte mir, dass die anwesenden Schülerinnen und   Schüler diese soeben durch Rachel erworbene wertvolle Erfahrung für sich   verinnerlichen würden. Am Ende war es spürbar, wie schwer es für die   anwesenden Jugendlichen gewesen sein musste, das Geschehen nachzuvollziehen   und diese soeben erlebte Konfrontation zu verkraften.

Die   Gedenkstätte Langennaundorf

Nach der Schulveranstaltung fuhren wir zur Gedenkstätte   Langennaundorf. Unser Besucher- und Teilnehmerkreis hatte sich inzwischen   vergrößert: Unter anderem war Zivilpolizei zum Schutz der Gäste angereist.   Die drei Kriminalbeamten zeigten sich am Thema sowie am Engagement von Frau   Arlt interessiert und äußerten motiviert ihre Absicht, ihren Wissensstand   durch Vortragsreihen bei der RAA Strausberg zum Thema "Faschismus"   zu erweitern.

Beim   Kilometerstein 101,6

Die Gedenkstätte Langennaundorf liegt im Wald und   unmittelbar am Bahndamm der Kilometerstein 101,6. Der Todeszug war hier am   20. April 1945 stehen geblieben, da die durch einen Luftangriff zerstörte   Eisenbahnbrücke die Weiterfahrt verhinderte. An diesem Bahnkilometer 101,6   wurden die Toten aus dem Zug in einem Massengrab beigesetzt. Am 23. April   1989 ist die Gedenkstätte für die jüdischen Opfer des Faschismus eingeweiht   worden. Auf einem großen Naturstein ist zu lesen:

In ehrendem Gedenken   Den jüdischen Opfern   Des Faschismus   22. April 1945

Der Jüdische Friedhof in Tröbitz

Andere Verstorbene aus dem Verlorenen Zug fanden im April   1945 auf einem eingerichteten jüdischen Friedhof in Tröbitz ihre letzte Ruhe.   Der jüdische Friedhof wurde 1966, also zuzeiten der Deutschen Demokratischen   Republik, zur Mahn- und Gedenkstätte bzw. zum jüdischen Ehrenfriedhof erklärt   und eingeweiht. Auf einem Gedenkstein steht:

Zum Gedächtnis an die jüdischen Männer und Frauen,
die noch 1945 in Tröbitz dem mörderischen Faschismus erlagen,
wurde dieser Stein als Mahnung für die Lebenden gesetzt.

Zwei Davidssterne kennzeichnen das Eingangstor zum   Friedhof in Tröbitz. Hannah und Rachel betrachteten aufmerksam die Grabreihen   und suchten nach bekannten Namen aus dem Todeszug. So fanden sie das Grab von   Mickel Abrahams, dem Sohn der Familie Abrahams, Jahrgang 1927. Er war   unmittelbar nach der Befreiung durch die Rote Armee im April 1945 gestorben.   Die Familie Abrahams nahm sich bereits in Bergen-Belsen der Schwestern Goslar   an und blieb auch während der Fahrt im Waggon mit ihnen zusammen. So   kümmerten sie sich besonders um die kleine Rachel, indem sie das kranke Kind   mit eigenen Milchrationen versorgte. Die Suche nach eingemeißelten   (bekannten) Namen an der Gedenkwand am Ende des Friedhofsterrains erwies sich   jedoch als erfolglos. 

Das Bürgermeisterhaus in Schilda und die Begegnung mit der Bürgermeistertochter Frau H.

Unsere letzte Station war Schilda. Diese Nachbargemeinde von   Tröbitz wurde im April 1945 zum Zufluchtsort der Schwestern Goslar. Nun stand   unsere Gruppe vor dem ehemaligen Bürgermeisterhaus, über das wir schon so   viel gelesen und gehört hatten. Frau Arlt klingelte zunächst vergeblich, doch   dann öffnete Frau H. Ein Vertreter der damaligen RAA Strausberg erklärte die   Situation und bat Frau H. höflich um Einlass für die Schwestern Goslar, die   sich gern die Räumlichkeiten anschauen würden. Frau H. ließ die Schwestern   nur zögernd das Grundstück betreten. Sie wurden über einen Hof in das Haus   geführt. Hannah legte Wert darauf, ihrer Schwester Rachel unter anderem das   besagte "Hakenkreuztapetenzimmer" zu zeigen. Doch mit diesem Wunsch   wies Frau H. die Schwestern entschieden ab. Ich spürte, dass beiden das   "Damals" in diesem Augenblick sehr gegenwärtig wurde. Frau H.   erzählte, sie sei im April 1945 gerade in Stendal gewesen, und ihr Vater habe   im April 1945 nicht mehr als Bürgermeister amtiert. Er wurde kurz vor dem Zusammenbruch   noch eingezogen und kehrte nicht zurück.

Am Ende der Konfrontation mit der Bürgermeistertochter   Frau H. fühlte jeder im Teilnehmerkreis eine große Anspannung von sich   abfallen. Bald darauf wurden in einer Tröbitzer Gaststätte die gemeinsam durchlebten   und schwer wiegenden Eindrücke dieses Tages ausgetauscht, und allmählich   stand die Heimfahrt an. Wir trennten uns freundschaftlich.

Erlebt und   aufgezeichnet von ©Heide Kramer, Hannover, im Mai 2003.   Fotos: ©Erika Arlt, Tröbitz/Brandenburg und ©Heide Kramer,   Hannover/Niedersachsen, Mai 2003.

Frau Erika Arlt ist am 12. November 2015 verstorben.
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Literaturhinweise: ©Erika Arlt: "Die jüdischen   Gedenkstätten Tröbitz, Wildgrube, Langennaundorf und Schilda im Landkreis   Elbe-Elster"; Herausgeber: Landkreis Elbe-Elster, Kulturamt, 04916   Herzberg, Grochwitzer Str. 20.     ©Alison Leslie Gold: "Erinnerungen an Anne Frank - Nachdenken über eine   Kinderfreundschaft", Ravensburger Buchverlag.     (1) und (2) ©) Erika Arlt: "Die jüdischen Gedenkstätten Tröbitz,   Wildgrube, Langennaundorf und Schilda im Landkreis Elbe-Elster".

http://antifa.sfa.over-blog.com/article-mein-gro-vater-alfred-klee-43968198.html   

Aktualisiert: November 2015

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