Das Schicksal der Freundinnen (November 2001)

Das Schicksal der Freundinnen
 

©Von Heide Kramer, November 2001

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Die Schwestern Hannah und Gabi Goslar in Amsterdam, 1942.
Mischtechnikimpression von  © Heide Kramer, 1999

 

Hintergrundinformationen

Hans Goslar wird 1889 in Hannover geboren und zieht mit den Eltern 1894 nach Berlin.

Hier vollziehen sich sein intellektueller Werdegang und das intensive orthodox-jüdisch-kulturelle Leben. Der Nationalökonom und Pressechef im Preußischen Innenministerium emigriert 1933 mit Ehefrau Ruth und der 1928 in Berlin geborenen Tochter Hannah Elisabeth nach Amsterdam/Holland, wo ihnen der Kaufmann Otto Frank aus Frankfurt am Main begegnet.  Auch er ist mit seiner Ehefrau Edith und zwei kleinen Töchtern Margot und Anne vor den Nationalsozialisten geflohen. Es existiert aber noch eine weitere Emigrantenfamilie: Der Berliner Rechtsanwalt Dr. Franz Ledermann, seine Ehefrau Ilse und ebenso zwei kleine Mädchen Barbara und Susanne. Die Familien schließen sich sofort zusammen und unterstützen sich gegenseitig.

Das Schicksal der Freundinnen

Hannah Goslar, Susanne Ledermann und Anne Frank werden "beste Freundinnen". Sie besuchen gemeinsam Kindergarten und Schule. 

Anne Frank

Als am 10. Mai 1940 Hitlers Wehrmacht die Niederlande überfällt, ist für die Mädchen die sorglose Zeit vorbei. Im Juli 1942 versteckt sich Anne Frank mit ihren Eltern und der Schwester Margot in der Amsterdamer Prinsengracht 263. Hier schreibt sie bis zur Verhaftung durch die Gestapo im August 1944 ihr Tagebuch. Mit diesen erhalten gebliebenen präzisen Aufzeichnungen wird Anne Frank der Nachwelt ein wertvolles Zeitdokument hinterlassen.  

Barbara und Susanne Ledermann

Susanne Ledermann wird mit ihren Eltern am 20. Juni 1943 bei einer Großrazzia der Deutschen in Amsterdam unmittelbar aus ihrer Wohnung geholt. Die Menschen gelangen über das Judendurchgangslager Westerbork nach Auschwitz und werden dort ermordet. Susannes ältere Schwester Barbara kann nur deshalb entkommen, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt bei ihrem Freund aufhält. Nach der Deportation ihrer Eltern und der Schwester gelingt es ihr, bei christlichen Freunden unterzutauchen. Nach 1945 emigriert Barbara Ledermann in die USA. Sie heiratet den Wissenschaftler und späteren Nobelpreisträger Martin Rodbell. Barbara Rodbell-Ledermann lebt inzwischen verwitwet noch heute in North Carolina/USA. (Über Barbara und Susanne Ledermann: Siehe englischsprachiger Nachtrag am Textende.)

Hannah Goslar

Inzwischen lebt die Familie Goslar in ihrer Amsterdamer Wohnung unter den größten psychischen Belastungen.1942 zieht das Unglück in das Haus Goslar ein: Zunächst stirbt Hannahs Mutter während der Geburt des dritten Kindes, das nicht am Leben bleibt. Kurze Zeit später erliegen auch die 13jährige Hannah, ihre 1940 in Amsterdam geborene Schwester Rachel Gabriele, der Vater Hans Goslar und die in der Nachbarschaft lebenden Großeltern am 20. Juni 1943 der Großrazzia der Deutschen. Mit anderen Menschen werden sie aus ihren Häusern vertrieben, zunächst in das Judendurchgangslager Westerbork, deportiert, wo die Großeltern zu Grunde gehen. Hans Goslar und seine Töchter werden nach Bergen-Belsen verschleppt. Am 25. Februar 1945 stirbt er in diesem Lager. Hannah und Rachel Gabriele sind nun völlig allein. Im April 1945 geraten die Schwestern auf Veranlassung der Nazis mit Tausenden anderer Häftlinge in einen Viehwaggon, der in die Geschichtsschreibung als "Der Zug der Verlorenen" eingeht. Ziel: Theresienstadt und andere Vernichtungslager. Die Rote Armee befreit die 16jährige Hannah, ihre viereinhalbjährige Schwester Rachel Gabriele und andere Überlebende bei Tröbitz in Brandenburg.

Die Schwestern Hannah und Rachel Gabi Goslar landen im verlassenen Haus des Bürgermeisters der benachbarten Gemeinde Schilda. Dieses Haus bietet den beiden Mädchen zwar zunächst eine Unterkunft, aber weder Schutz noch Obdach. Als sich Hannah erschöpft in ein Bett legen will, entdeckt sie an den Wänden des Zimmers eine hellgrüne, mit Hakenkreuzen gemusterte Tapete. Wie sich später herausstellt, gehört dieses Zimmer der 19jährigen Tochter des Bürgermeisters.

Die Schwestern heute

 

1947 emigriert Hannah nach Palästina/Jerusalem. Ihre kranke Schwester Rachel Gabriele verbleibt zunächst in der Schweiz. Erst 1949 folgt sie ihrer Schwester nach Israel. Aus Hannah ist eine Krankenschwester und schließlich Frau Pick-Goslar geworden, aus Rachel Gabriele eine Lehrerin und Frau Mozes-Goslar. Rachel hat sich früh geschworen, niemals in ihrem Leben deutschen Boden zu betreten. Sie hält sich viele Jahre konsequent an ihren Eid und meidet alles, was mit Deutschland zusammenhängt. Es kommt oft vor, dass Rachel ihre Kinder mehrfach am Tage umkleidet, weil das "Lagertrauma" für sie unüberwindbar ist. Mit dem Wort "Lager" ist Verwahrlosung, Schmutz, Leid, Tod, Gefahr und Krankheit verbunden. Doch Rachel erinnert sich nicht mehr an ihre Leidenszeit in Bergen-Belsen.

 

Hannah Pick-Goslar im Gespräch mit jungen Menschen 

Hannah Pick-Goslar hat es sich seit Jahren zur Aufgabe gemacht, als Opfer des Faschismus und nunmehrige Zeitzeugin vorwiegend junge Menschen für ihre Geschichte zu interessieren. ("Wer soll es später noch erzählen, wenn wir nicht mehr leben?") So wird Hannah unter anderem häufig in ihre ehemalige Heimatstadt Berlin eingeladen, ist bereit, dort in Schulen zu referieren und Vorträge zu halten. Die Resonanzen sind groß. Seitdem ich 1999 eigens für Frau Pick-Goslar ein Aquarell erarbeitet und es ihr persönlich in Berlin ausgehändigt habe, ist unser Kontakt bestehen geblieben und wurde intensiver.

 

Hannah Pick und Rachel Gabriele Mozes in Berlin, November 2001

Im Herbst dieses Jahres erzählt mir Hannah Pick am Telefon, dass das Anne-Frank-Zentrum Berlin sie für November eingeladen hat und daher eine Reise nach Berlin eingeplant ist. Ob ein Treffen zwischen uns machbar wäre? Und: Ihre Schwester sei jetzt endlich dazu bereit, nach Deutschland zu reisen. Ich möchte es mir selbstverständlich nicht nehmen lassen, Hannah wieder zu sehen und ihre Schwester Rachel kennen zu lernen. Allerdings, so erfahre ich, müsse sich Rachel als strenggläubige Jüdin zunächst  von ihrem geleisteten schwer wiegenden Eid, niemals deutschen Boden zu betreten, durch einen Rabbi lossprechen lassen. Akzeptiert dieser das Vorhaben nicht, gilt der Eid als unauflösbar. -- Doch es hat sich alles dafür entschieden. Hannah und Rachel Gabriele kommen. Für uns ist der Treffpunkt Hotel 'Savoy' ausgemacht.

Ich lerne Hannahs 'kleine Schwester' kennen. Sie wirkt zerbrechlich und ist schwarz gekleidet. Mir fällt sofort auf, dass die Schwestern Goslar vom Äußeren her unterschiedlich sind. Ich habe einmal Fotos der Eltern Hans und Ruth Goslar angeschaut. Ich finde, dass Hannah ihrer Mutter ähnelt und die Schwester Rachel dem Vater. Bei Hannah Pick entging mir schon früher eine Sachlichkeit. nicht.  War das die "schützende Hülle", die ihr während der Leidenszeit im Konzentrationslager zu Gute kam und das "Überleben" ermöglichte? Sofort fällt mir eine Äußerung Hannahs ein: "Ich musste immer für alle und alles wie eine Mutter sorgen". --- Wie mag es gewesen sein, als die Schwestern Hannah und Gabriele schwer krank und mutterseelenallein nach der 'Befreiung' durch die Rote Armee in Tröbitz und Schilda nach Essbarem und einer Unterkunft suchten? Hannah hatte sich um alles gekümmert, sehr verantwortungsvoll gegenüber ihrer kleinen hilflosen Schwester.

 

Rachel reicht mir zurückhaltend die Hand. Hannah Pick fragt, ob ich wohl zum Einkaufen mitkommen würde. Wir betreten wenig später die Konfektionsabteilung des  Kaufhauses C & A. Hannah findet gezielt das, was sie haben möchte, während Rachel unschlüssig bleibt.

Ich überlege und bin unsicher: Wurde auch dieses Warenhaus nach 1933 "arisiert"? --- Während Hannah noch mit der Auswahl der Waren beschäftigt ist, trinke ich mit Rachel einen Kaffee. Während des Gesprächs fällt mir abermals das Gegensätzliche der Schwestern auf, dieses Mal jedoch nicht aus optischem Blickwinkel. Frau Pick hat das Gewünschte erworben, aber das Zögern ihrer Schwester mitbekommen und sagt: "Ich bin charakterlos. Ich habe festgestellt, dass ich hier einige Sachen günstiger bekommen kann als bei uns. Warum sollte ich sie also dann nicht kaufen?"

Die Schwestern laden mich in das koschere israelische Restaurant im Gemeindehaus Fasanenstraße ein. Rachel wird beim Essen aufgeschlossener. Hannah wundert sich über ihre Schwester: "Ich habe gar nicht gewusst, dass du so gut Deutsch sprichst!" Aber hierin steht keine der anderen nach. Es war Rachels Wunsch, auch Hannover zu besuchen, um sich dort über die dortigen ehemaligen Lebensräume ihres Vaters zu informieren. Spurensuche. Da das jedoch in diesem Jahr aus Zeitgründen nicht realisierbar sein konnte, lasse ich die Schwestern wissen, ihr Anliegen beim nächsten Treffen im kommenden Sommer unbedingt zu unterstützen. Ich würde ihnen dann in Hannover die Wohnhäuser zeigen, in denen ihr Vater als Kind mit seinen Eltern lebte, bevor die Familie nach Berlin verzog. --- Der Vater Hans Goslar hatte in Amsterdam für seine zweite Tochter den Namen Rachel Gabriele ausgesucht und sie liebevoll 'Gabi' genannt. Das erzählt Hannah. Wir verabschieden uns bald darauf, denn ich muss den letzten Zug nach Hannover bekommen, und für Hannah und Rachel steht in Berlin für die nächsten Tage noch ein turbulentes Programm an, so zum Beispiel ein Radiointerview,  zahlreiche Gespräche, Empfänge und Vorträge.

 

Es ist das Schicksal der Entwurzelten, die doch noch an ihren Wurzeln hängen. Sie sind unruhig auf der Suche, und vielleicht sehnen sie sich nach ihrem Ursprung?

 

 

 

 

Erlebt und aufgezeichnet von ©Heide Kramer,  Hannover, November 2001.  Foto: ©Heide Kramer, Hannover.

 

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"Die Schwestern Hannah und Gabi Goslar in Amsterdam, 1942":

Mischtechnikimpression von ©Heide Kramer, Hannover, 1999, nach einem Foto aus dem Privatbesitz von

©Frau Hannah Pick-Goslar, Jerusalem/Israel.

 

 

 

 

 

 

 

Nachtrag:  

 

 

 

Barbara Ledermann, geboren am 4. September 1925 in Berlin

 

  Barbara Ledermann

BARBARA LEDERMANN Born Berlin, Germany September 4, 1925

Barbara was the older of two daughters born to Jewish parents in Germany's capital, Berlin. Barbara's father was a successful lawyer. As soon as Barbara was old enough to walk, he would take her around Berlin to see the sights and tour the city's art museums. Barbara liked to go horseback riding and dreamed of becoming a dancer.

1933-39: After the Nazis came to power in January 1933, it was illegal for my father to have non-Jewish clients. His law practice quickly folded. Later that year when I was 7, our family moved to the Netherlands where my mother had relatives. I continued my schooling in Amsterdam and quickly learned Dutch. Although we no longer lived in a big house with servants, I enjoyed Amsterdam--it had a much less formal atmosphere than Berlin.

 

1940-44: The Germans invaded the Netherlands in May 1940. Two years later, when they began to deport many Jews, my boyfriend, Manfred, told me that these deportations to "labor camps" really meant death. He got false IDs for me and my family, and told me, "If you get called up, don't go." I asked, "What will happen to my parents if I don't go?" "Nothing that wouldn't happen otherwise," he answered. "What do you mean?" I asked, and he responded, "Everyone who goes will be killed. They are all going to die."

Barbara remained in hiding until May 1945, when Amsterdam was liberated by Canadian troops. She emigrated to the United States in November 1947.

 
 Susanne Ledermann, geboren am 8. Oktober 1928 in Berlin, ermordet 1944  in Auschwitz
 
 
 
Susanne Ledermann
 
SUSANNE LEDERMANN Born Berlin, Germany October 8, 1928
 

 

Susanne was the younger of two daughters born to Jewish parents in the German capital of Berlin. Her father was a successful lawyer. Known affectionately as Sanne, Susanne liked to play with her sister on the veranda of her home and enjoyed visiting the Berlin Zoo and park with her family.

1933-39: After the Nazis came to power in January 1933, it became illegal for Jewish lawyers to have non-Jewish clients. When Susanne was 4, her father's law practice closed down and the Ledermanns moved to the Netherlands. Susanne began attending school in Amsterdam when she was 6. She was a good student, and she quickly made friends in the neighborhood. Some of her friends were also Jewish refugees from Germany.

 

1940-44: On May 14, 1940, Susanne heard the roar of German planes bombing Rotterdam 35 miles away. Amsterdam was soon occupied by the Germans. When Susanne was 13, the Germans forced the Jews out of public schools and Susanne enrolled in a Jewish school. By June 1942 the Germans were deporting Jews, ostensibly to work camps in the "East." Susanne's father, who worked as a translator for the Jewish council, believed that the family would not be harmed as long as they obeyed the law and followed German instructions.

On June 20, 1943, Susanne and her parents were deported to the Westerbork camp in Holland. In 1944 they were sent to Auschwitz, where Susanne perished. She was 15 years old.

 

 
Copyright © © United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C.
Encyclopedia Last Updated: June 25, 2007.

 

 

Siehe auch: http://www.berlin-judentum.de/geschichte/goslar.htm

 

 

 

 

 

 

 

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